Fälschung als Methode

Neben dem Schauspielerthema – von dem auf je eigene Weise auch noch sowohl der Eröffnungsfilm „The Black Swan“ als auch der neue Film von Abdellatif Kechiche „Black Venus“ handelten – etabliert sich als zweiter Roter Faden auf diesem Festival: die Geschichtsfälschung. Es begann schon mit Andrew Laus „Legend of The Fist: The Return of Chen Zhen“, in dem ein – zumindest im deutschen Schulunterricht bislang unbekannter oder gar verschwiegener? – Einsatz der Chinesen im Ersten Weltkrieg gezeigt wurde. „Frankreich 1917“ – wurde da zur ersten Szene eingeblendet und man sah, wie ein kleines Häufchen schlecht ausgerüsteter Chinesen im Schützengraben liegt und vor den deutschen Kampfmaschinen zittert. Doch dann hält die Titelfigur Chen Zhen eine feurige Rede, von wegen man wolle hier nicht in der Fremde sterben, sprach‘s, sprang aus dem Graben und mähte die deutschen Pickelhauben mit Kickboxing und furiosem Durch-den-Raum-springen nieder. Es war so überzeugend, dass ich im Anschluss lange das Internet nach Hinweisen über eine tatsächliche chinesische Einmischung im Ersten Weltkrieg durchforstete …

Ähnlich erging es mir – und vielen anderen – nach dem Russischen Wettbewerbsbeitrag „Silent Souls“ von ALexei Fedorchenko. Der Film spielt im Nordwolga-Gebiet und zeigt nichts weiter als zwei ältere Männer, die die soeben gestorbene Frau des einen in ein Auto packen und mit ihr an ein bestimmtes Flussufer fahren, um sie zu verbrennen. Aus dem Off hört man dazu immer wieder die Stimme des einen, der von „unseren Leuten“ erzählt, den Nachfahren der „Meryaner“, bei denen sich bestimmte Bräuche der finno-ugrischen Vorfahren noch erhalten hätten. Dazu gehöre eben diese Art der freien Feuerbestattung, die das anschließende Verstreuen der Asche in den Flüssen vorsehe. Auf den Friedhöfen der Gegend lägen allenfalls Zugereiste, sie seien zur Hälfte leer. Mit lakonischer Stimme entwirft der Erzähler auf diese Weise eine ganz eigene Welt, in der das heidnische Erbe der Meyaner bis ins Heute fortwirkt. Angeblich. Gefilmt ist das Ganze mit quasi Tarkowskischem Atem. Lange Einstellungen zeigen geduldig die russische Landschaft in ihrer ganzen postmodernen Hässlichkeit und ihrer stellenweise dann doch morbiden, verwahrlosten Schönheit. Unwirtliche Stadtansichten wechseln mit melancholischer Landschaft, deren Weite etwas Beklemmendes hat. Es ist ein sehr schöner, sehr trauriger Film – der Mann hat seine verstorbene Frau sehr geliebt und erzählt davon –, der zugleich etwas Derbes hat. Und dann eben die Frage: Gab es diese Meryaner tatsächlich? Und sind die Friedhöfe an der nördlichen Wolga wegen ihnen zur Hälfte leer? Das Internet weiß über die Meryaner nicht viel, aber ich bin extra zur Pressekonferenz gegangen, um es vom Regisseur zu hören: Tatsächlich, es gab die Meryaner, aber ein benennbares Erbe haben sie außer Flussnamen in der Gegend nicht hinterlassen. Sie hätten das alles für den Film erfunden. Was ihn aber umso schöner macht, weil es ihm Ironie verleiht. Keine, die zum Lachen bringt, sondern im Gegenteil, eine, die die Melancholie verstärkt. Und aus „Silent Souls“ einen wirklich großen Film über Gedächtnis und Moderne und ja, auch sowas wie die „Russische Identität“ macht.

Geschichtsfälschung – das macht der Spanier Alex de la Iglesia quasi zur Methode seines „Balada triste de trompeta“. Der Film beginnt im Spanischen Bürgerkrieg, ein Trupp Republikaner stürmt eine Kinderzirkusvorstellung und bewaffnet zwangsweise alle Zirkusmitglieder gegen die anrückenden Faschisten. Der Clown bekommt eine Machete zugeteilt, und verbreitet in voller Montur und Maske dementsprechenden Schrecken, bevor er von den damaligen Siegern der Geschichte festgenommen wird. Sein Sohn ergreift im Gedächtnis an ihn in den 70er Jahren dann ebenfalls den Clownsberuf und vor dem Hintergrund des untergehenden Franco-Regimes liefert er sich einen tödlichen Kampf mit einem anderen Clown um eine Frau und Seiltänzerin. Es ist ein ungeheuer lauter, grober, kruder und actionreicher Film, der in seine Dreiecksgeschichte wild, unverfroren und auch vulgär Ausschnitte oder Anspielungen auf die spanische Geschichte mit einbaut. Was das alles so richtig bedeutet, hat hier bislang noch niemand sagen können, aber irgendwie gehört der Film zu denjenigen, die lange nachhängen. Wurde Franco in seinem letzten Lebensjahr tatsächlich von einem durch durchgedrehten Clown in die Hand gebissen?

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