So viel Gerangel war nie: Wer kriegt den Goldenen Löwen?

Zum großen Finale hin, der feierlichen Verleihung des Goldenen Löwen am morgigen Samstagabend, fühlt sich die „Mostra“ in diesem Jahr tatsächlich wie eine Art Weltmeisterschaft der Filme an. Da ist zum einen Festivaldirektor Marco Müller, der wie ein Nationaltrainer, dessen Entscheidung über Bleiben oder Gehen vom Ausgang des Endspiels abhängt, jede Auskunft darüber verweigert, ob er seinen nun auslaufenden Vertrag nicht doch noch einmal verlängern wird. Und zum andern sind da die 23 Filme des diesjährigen Wettbewerbs, die ein selten dichtes Feld von lauter möglichen Titelkandidaten bilden: einige hohe Favoriten, einige wahrscheinliche Gewinner und jede Menge chancenreiche Außenseiter.

Die Jury mit Präsident Darren Aronofsky steht wirklich vor der Qual der Wahl. Und den meisten Kritikern erscheint es hier eigentlich völlig unvorhersehbar, welcher der vielen in Frage kommenden Filme letztlich den Löwen davon tragend wird. Schließlich reden auch noch solche Regisseurspersönlichkeiten wie Todd Haynes und André Techiné mit. Wer weiß schon, welchen Filmgeschmack David Byrne hat? Oder die italienische Schauspielerin Alba Rohrwacher? Wie dem auch sei, im internationalen Kritikerspiegel der   Variety-Daily-Ausgabe rangieren drei Filme ganz oben: Roman Polanskis klaustrophobe Vier-Personen-Theaterverfilmung „Carnage“, George Clooneys fulminantes Politschachspiel „The Ides of March“ und Steve McQueens Sexsuchtdrama „Shame“. Für die Jury, die sich bekanntlich selten nach den Kritikervorlieben richtet, könnte Clooneys Film aber leicht zu konventionell und Polanski zu abgezirkelt erscheinen. Ähnliches gilt für David Cronenberg und seinen wie beschrieben sehr akademisch-klassischen Freud-Jung-Film „A Dangerous Method“.

Und vielleicht soll es in diesem Jahr auch nicht schon wieder eine von amerikanischen Stars geprägte Produktion sein, trug doch im letzten Jahr an dieser Stelle Sofia Coppola mit ihrem „Somewhere“ den Triumph davon. Deshalb kommen als weitere heiße Löwenkandidaten zwei Filme in Frage, die, sagen wir einmal höflich, eher polarisierten: „Himizu“ aus Japan, der eine Gesellschaft in totaler Post-Fukushima-Auflösung zeigt, in der messerschwingende Amokläufer den Alltag beherrschen, und „People Mountain People Sea“, der in letzter Minute an der Zensur vorbei ins Programm geschleuste chinesische Beitrag, der sein Land als von sinnloser Gewalt, Drogenkonsum und finsterem Minenarbeiterelend geprägt zeichnet.

Vielleicht aber steht gerade in den gegenwärtigen Zeiten der Krise der Sinn der Juroren nach einem Film, der in Ton und Sujet einmal nicht anklagt, sondern etwas Positives, Aufbauendes, wenn auch leicht Sentimentales beschreibt, wie es die Hongkongchinesin Ann Hui in ihrem „A Simple Life“ macht. Dort geht es um die Beziehung eines Mannes (Andi Lau) zur alten Bediensteten (Deannie Yip) seiner Familie, die er in ihren letzten Jahren vor ihrem Tod liebevoll begleitet. Möglich wäre auch, dass die Entscheidung für die ganz und gar historische John-Le-Carré-Verfilmung „Tinker Tailor Soldier Spy“ fällt, in der der Thomas Alfredson so stylish-sorgfältig das Großbritannien der Kalten-Kriegs-Ära rekonstruiert. Aber auch Sokurovs „Faust“, in dem Sokurov seine bewährten Manierismen zugegeben sehr effektvoll einsetzt, scheint dem Raunen nach nicht chancenlos. Und manche setzen sogar auf Abel Ferrara und sein WeltuntergangsKammerspiel „4:44 – Last Day on Earth“. Und dann gab es da noch diesen sehr sperrigen und schwierigen griechischen Film, „Alps“, mit dessen Auszeichnung man das Ganze richtig aufmischen könnte…

Sehr viel übersichtlicher dagegen gestaltet sich das Feld der Kandidaten auf den Darstellerpreis. Dort gilt wie schon seit Tagen gepostet Michael Fassbender, der in gleich zwei Filmen, „Shame“ und „A Dangerous Method“, auf ganz unterschiedliche glänzen konnte, als der zu schlagende Favorit. Ryan Gosling („The Ides of March“) oder Gary Oldman („Tinker Tailor Soldier Spy“) werden gegen den irisch-deutschen Schauspieler nur Außenseiterchancen eingeräumt. Wobei auch hier gewisse Kreise ein „Dark Horse“ ausgemacht haben wollen: Gabriele Spinelli, der im dritten italienischen Wettbewerbsbeitrag „L’ultimo terrestre“ gewissermaßen die Titelrolle spielt – den letzte Erdling. Spinelli spielt eine jener skurrilen Hauptfiguren, die den Zuschauer mit Buster-Keaton-Straight-Face durch eine absurde Handlung – Italien erwartet die Invasion der Aliens – führen und mit eigentümlichen Charme bei der Stange halten.

Geradezu erschreckend ausgedünnt erscheint dagegen das Kandidatenfeld der Darstellerinnen: Manche setzen ihre Wetten auf Monica Belluci, die im bei der Kritik verhöhnten „Un été brulant“ zwar keine glückliche Figur machte, die aber immerhin die unausgesprochene Vorgabe ausfüllen könnte, dass einer der Festivalpreise an einen italienischen Beitrag gehen muss. Deannie Yip, der älteren Darstellerin aus dem erwähnten „A Simple Life“ werden allerdings die größeren Chancen eingeräumt. Der Mangel an Darstellerinnenfavoriten weist im Übrigen auf einen wichtigen Umstand hin: Es war – einmal mehr! – ein ganz von Männern, ihren Geschichten, ihren Ängsten und Leidenschaften geprägtes Festival.

Die legendäre Lion's Bar

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