Die Preise sind da

So, es ist vollbracht. Um es gleich zu sagen: Es hat alles andere als mein Lieblingsfilm gewonnen. Aleksandr Sokurovs „Faust“, soeben mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, war mir zu manieriert, gewissermaßen auch zu „Sokurovesk“. Die Farben, das Stimmengeraune, die verzerrten und verspiegelten Objektivaufnahmen, das Somnambule, das war alles wie gehabt. Es ist, als ob Sokurov mit „Moloch“ seine Methode gefunden hat, die er nun immer wieder anwendet, sei es auf Hitler oder Hirohito, auf Tschetschenien oder das mittelalterliche Deutschland von Faust. Unter seiner Bearbeitung wird das alles zum selben bedeutungschwangeren Mysterium – das aber diesmal hier tatsächlich sehr gut ankam. Als Gerüchte durchdrangen, die Jury unter Darren Aronofsky hätte sich den Film zwei Mal angeguckt, schwante mir schon Böses. Aber als Sokurov dann so strahlend-beglückt auf die Bühne trat, sich ans Herz griff und man merkte, dass diesem ewig mit sich und der Welt Unzufriedenen in diesem Moment endlich, endlich ein Augenblick der Zufriedenheit zuteil wurde, in dem gewissermaßen alles Erlittene für den Wimperschlag der Preisverleihung wieder gut gemacht war – da freute ich mich doch für ihn. Allerdings nur bis er dann auf der Pressekonferenz das Predigen begann, für die staatliche Kulturförderung und dass es ohne sie „in der alten Welt“ bald schlimm bestellt sei und dass die deutschen Schauspieler mindestens so gut seien wie die amerikanischen, und dass es schlimm sei, dass sie in der Welt keiner kennt, undsoweiterundsofort. Sogar Darren Aronofsky war, glaube ich, ein bisschen genervt. Oder auch in Ehrfurcht erstarrt, wer weiß das schon.

Der Regiepreis für Cai Shangjun, dessen Film ja wie beschrieben so viel Pech bei den Projektionen hatte, gehört zu jener Sorte Entscheidung, gegen die man nichts sagen kann. „People Mountain, People Sea“ ist ein Film, der durch die Härte des Gezeigten beeindruckt, und durch den Mut, es zu zeigen. Eine Gesellschaftskritik, die einfach nicht zurückzuweisen ist, obwohl über die Details des Films auch große Verwirrung herrschte: Suchte der Mann nun den Mörder seines Bruders oder seines Sohnes? Und weil am Ende in den Bergwerksszenen alle schwarze Gesichter hatten, konnte man auch nicht erkennen, ob er den nun gefunden hatte…

Beim Spezialpreis an Emanuele Crialeses „Terraferma“ gab es Buhrufe. Den Film haben viele als Goodwill-Kitsch empfunden. Aber der Regisseur selbst wiederum ist so sympathisch, dass man ihm den Preis auch nicht missgönnen mag. Ganz anders dagegen die Reaktionen auf Michael Fassbenders Auszeichnung mit der „Coppa Volpi“ – es gab tobenden Applaus im sonst so coolen Presseraum. Weniger enthusiastisch, aber immer noch sehr warm wurde auch die Entscheidung für Deanie Yip aus „A Simple Life“ aufgenommen. Beide waren übrigens die haushohen Favoriten gewesen, wobei Fassbinder tatsächlich dieses Festival „mesmerisiert“ hat, während Yip einfach die einzige Frauenfigur mit einer echten Hauptrolle im diesjährigen Wettbewerb war. Was nicht heißen soll, dass sie nicht auch ganz, ganz toll gespielt hat.

Mit gewisser Genugtuung habe ich den Kamerapreis an Robbie Ryan für „Wuthering Heights“ aufgenommen – die Jury erwähnte in der Begründung tatsächlich das Wetter als Teil der Natur, die als weitere Figur im Film eine große Rolle spiele. An den auch von mir als Löwenfavoriten gehandelten „Himizu“ von Sion Sono ging der Nachwuchsdarstellerpreis, der dafür geteilt wurde auf den Jungen und das Mädchen, die sich dort fast immer in den Haaren liegen. Eine Entscheidung, die auf sehr schöne Weise diesem japanischen Film gerecht wird, der doch so sehr ringt um die Zukunft seiner beiden Protagonisten, um die es in einer zerfallenden Gesellschaft nicht gut bestellt ist.

Der griechische „Alpis“, der für sein Drehbuch ausgezeichnet wurde, hat seine kleine, aber sehr entschiedene Fangemeinde. Wie das oft der Fall ist bei strengen, sperrigen Filmen, die das Publikum zunächst quälen, dafür aber um so nachhaltiger Eindruck hinterlassen.

Egal wie einverstanden ich nun im Detail damit bin, alles in allem spiegeln die Preisentscheidungen doch genau das wieder, was auch das Festival als Ganzes gezeigt hat, und was Darren Aronofsky simpel auf den Punkt brachte: „The international cinema is alive and well.“

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So viel Gerangel war nie: Wer kriegt den Goldenen Löwen?

Zum großen Finale hin, der feierlichen Verleihung des Goldenen Löwen am morgigen Samstagabend, fühlt sich die „Mostra“ in diesem Jahr tatsächlich wie eine Art Weltmeisterschaft der Filme an. Da ist zum einen Festivaldirektor Marco Müller, der wie ein Nationaltrainer, dessen Entscheidung über Bleiben oder Gehen vom Ausgang des Endspiels abhängt, jede Auskunft darüber verweigert, ob er seinen nun auslaufenden Vertrag nicht doch noch einmal verlängern wird. Und zum andern sind da die 23 Filme des diesjährigen Wettbewerbs, die ein selten dichtes Feld von lauter möglichen Titelkandidaten bilden: einige hohe Favoriten, einige wahrscheinliche Gewinner und jede Menge chancenreiche Außenseiter.

Die Jury mit Präsident Darren Aronofsky steht wirklich vor der Qual der Wahl. Und den meisten Kritikern erscheint es hier eigentlich völlig unvorhersehbar, welcher der vielen in Frage kommenden Filme letztlich den Löwen davon tragend wird. Schließlich reden auch noch solche Regisseurspersönlichkeiten wie Todd Haynes und André Techiné mit. Wer weiß schon, welchen Filmgeschmack David Byrne hat? Oder die italienische Schauspielerin Alba Rohrwacher? Wie dem auch sei, im internationalen Kritikerspiegel der   Variety-Daily-Ausgabe rangieren drei Filme ganz oben: Roman Polanskis klaustrophobe Vier-Personen-Theaterverfilmung „Carnage“, George Clooneys fulminantes Politschachspiel „The Ides of March“ und Steve McQueens Sexsuchtdrama „Shame“. Für die Jury, die sich bekanntlich selten nach den Kritikervorlieben richtet, könnte Clooneys Film aber leicht zu konventionell und Polanski zu abgezirkelt erscheinen. Ähnliches gilt für David Cronenberg und seinen wie beschrieben sehr akademisch-klassischen Freud-Jung-Film „A Dangerous Method“.

Und vielleicht soll es in diesem Jahr auch nicht schon wieder eine von amerikanischen Stars geprägte Produktion sein, trug doch im letzten Jahr an dieser Stelle Sofia Coppola mit ihrem „Somewhere“ den Triumph davon. Deshalb kommen als weitere heiße Löwenkandidaten zwei Filme in Frage, die, sagen wir einmal höflich, eher polarisierten: „Himizu“ aus Japan, der eine Gesellschaft in totaler Post-Fukushima-Auflösung zeigt, in der messerschwingende Amokläufer den Alltag beherrschen, und „People Mountain People Sea“, der in letzter Minute an der Zensur vorbei ins Programm geschleuste chinesische Beitrag, der sein Land als von sinnloser Gewalt, Drogenkonsum und finsterem Minenarbeiterelend geprägt zeichnet.

Vielleicht aber steht gerade in den gegenwärtigen Zeiten der Krise der Sinn der Juroren nach einem Film, der in Ton und Sujet einmal nicht anklagt, sondern etwas Positives, Aufbauendes, wenn auch leicht Sentimentales beschreibt, wie es die Hongkongchinesin Ann Hui in ihrem „A Simple Life“ macht. Dort geht es um die Beziehung eines Mannes (Andi Lau) zur alten Bediensteten (Deannie Yip) seiner Familie, die er in ihren letzten Jahren vor ihrem Tod liebevoll begleitet. Möglich wäre auch, dass die Entscheidung für die ganz und gar historische John-Le-Carré-Verfilmung „Tinker Tailor Soldier Spy“ fällt, in der der Thomas Alfredson so stylish-sorgfältig das Großbritannien der Kalten-Kriegs-Ära rekonstruiert. Aber auch Sokurovs „Faust“, in dem Sokurov seine bewährten Manierismen zugegeben sehr effektvoll einsetzt, scheint dem Raunen nach nicht chancenlos. Und manche setzen sogar auf Abel Ferrara und sein WeltuntergangsKammerspiel „4:44 – Last Day on Earth“. Und dann gab es da noch diesen sehr sperrigen und schwierigen griechischen Film, „Alps“, mit dessen Auszeichnung man das Ganze richtig aufmischen könnte…

Sehr viel übersichtlicher dagegen gestaltet sich das Feld der Kandidaten auf den Darstellerpreis. Dort gilt wie schon seit Tagen gepostet Michael Fassbender, der in gleich zwei Filmen, „Shame“ und „A Dangerous Method“, auf ganz unterschiedliche glänzen konnte, als der zu schlagende Favorit. Ryan Gosling („The Ides of March“) oder Gary Oldman („Tinker Tailor Soldier Spy“) werden gegen den irisch-deutschen Schauspieler nur Außenseiterchancen eingeräumt. Wobei auch hier gewisse Kreise ein „Dark Horse“ ausgemacht haben wollen: Gabriele Spinelli, der im dritten italienischen Wettbewerbsbeitrag „L’ultimo terrestre“ gewissermaßen die Titelrolle spielt – den letzte Erdling. Spinelli spielt eine jener skurrilen Hauptfiguren, die den Zuschauer mit Buster-Keaton-Straight-Face durch eine absurde Handlung – Italien erwartet die Invasion der Aliens – führen und mit eigentümlichen Charme bei der Stange halten.

Geradezu erschreckend ausgedünnt erscheint dagegen das Kandidatenfeld der Darstellerinnen: Manche setzen ihre Wetten auf Monica Belluci, die im bei der Kritik verhöhnten „Un été brulant“ zwar keine glückliche Figur machte, die aber immerhin die unausgesprochene Vorgabe ausfüllen könnte, dass einer der Festivalpreise an einen italienischen Beitrag gehen muss. Deannie Yip, der älteren Darstellerin aus dem erwähnten „A Simple Life“ werden allerdings die größeren Chancen eingeräumt. Der Mangel an Darstellerinnenfavoriten weist im Übrigen auf einen wichtigen Umstand hin: Es war – einmal mehr! – ein ganz von Männern, ihren Geschichten, ihren Ängsten und Leidenschaften geprägtes Festival.

Die legendäre Lion's Bar

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“Film Sorpresa” mit Feuer im Saal

Überraschung in der "Sala Darsena"

Hat es für das weitere Schicksal eines Festivalfilms Auswirkungen, wo und unter welchen Bedingungen er gezeigt wird? Ob im Plüsch des alten Palazzo del Cinema, der frisch restaurierten „Sala Grande“ oder in der profanen „Sala Darsena“, der ehemaligen Freiluftarena dahinter, die irgendwann in den 90ern mit einer Art Holzverschlag überbaut wurde? Und was ist, wenn die Vorführungen nur im ca. für 120 Leute Raum gebenden „Sala Pasinetti“ stattfinden, mit ca 500 wütenden Journalisten vor den Türen, die draußen bleiben müssen? Die große Raumnot des Festivals von Venedig führte gestern auf jeden Fall dazu, dass die erste Vorführung des diesjährigen „Film Sorpresa“, des Überraschungsfilms, den Marco Mueller als Standard in sein jährliches Wettbewerbsprogramm einführte, im kleinen Pasinetti morgens um 9 Uhr stattfinden sollte. Es war die Stunde der Frühaufsteher: Um Viertel nach acht warteten bereits 20 Journalisten, im Grunde guter Stimmung, weil man sicher sein konnte, zu den Happy Few zu gehören, die den Film als erstes sehen würden. Man spekulierte angeregt darüber, um welchen Film es sich handeln könnte. China stand als Herkunftsland so gut wie fest. Obwohl auch Unsicherheit darüber herrschte, ob Mueller seine auf hartnäckiges Fragen gegebene Antwort diesbezüglich, es handle sich „wie immer um einen an der Zensur vorbeigeschmuggelten Film aus China“ nicht vielleicht rein ironisch gemeint haben könnte. Manche wollten sogar wissen, dass es sich um eine Regisseurin handelte, die in Locarno letztes Jahr etwas gewonnen hatte. Oder um die, die ihren Film in Berlin gezeigt hatte? Kurzum, das Warten war einigermaßen kurzweilig, bis nach einer halben Stunde langsam Unruhe aufkam. Man wurde nicht eingelassen, da stimmte doch irgendetwas nicht. „Problemi technici“, verkündete ein überaus unausgeschlafener Saalleiter. Weiter wisse er nichts. Die Stimmung verschlechterte sich spürbar. In der Schlange wechselte das Thema von der Spekulation über chinesische Filmemacher zur obligatorischen Klage über „die Italiener“, deren sonst eher unangenehm auffallende Kommunikationsbereitschaft in solchen Fällen plötzlich gegen Null geht. Vor allem , was Erklärung fürs nichtitalienischisch-sprachige Publikum betrifft. Erst weitere 20 Minuten später stieg aus der Tiefe des Raums ein „Techniker“ hervor, schwitzend, wie es sich gehört, der auf Bitte sogar in Englisch erklärte, dass die Untertiteldatei des chinesischen (Yes!) Films nicht lesbar sei und deshalb die Vorstellung ausfallen müsste.

Aus der Überraschung war bei der nächsten angesetzten Vorführung des Films am Abend längst Gewissheit geworden: es handelte sich um „People Mountain People Sea“ von Cai Shangjun, im Übrigen keine junge Dame, sondern ein eher schon gesetzter Herr. Der Regisseur war mit Entourage selbst anwesend, was für das Gelingen der Vorführung als gutes Zeichen gelten konnte. Nun denn, aber es sollte nicht sein. Nach etwa einer Stunde – die Untertitel funktionierten übrigens ganz fantastisch – standen auf der linken Seite der Sala Darsena plötzlich Leute auf und gingen raus; andere folgten, es wurden immer mehr, und während in meiner Reihe noch darüber spekuliert wurde, ob es sich um eine Art Protest handelte gegen die soeben gezeigte Vergewaltigung etwa, oder den Drogenkonsum, oder die Polizeikorruption oder alles zusammen, das dem chinesischen Image im Ausland eher abträglich ist, begannen wir es zu riechen: ein scharfer Gestank verbrennenden Plastiks breitete sich aus. Doch nirgendwo war Feuer zu sehen. Mittlerweile waren alle Türen nach außen geöffnet worden, das Saallicht ging an, die Projektion wurde angehalten (in dieser Reihenfolge) – und niemand wusste, was los war. Der Exodus hatte sich verlangsamt, manche kamen von draußen wieder rein, andere packten erst jetzt ihre Sachen und gingen. Ein freundlicher Feuermann antwortete allen, die ihn fragten auf italienisch, er wisse auch nicht, was los sei. Über den Lautsprecher lief derweil die automatische Ansage, es würde bald weitergehen.

Während einige wenige Mannen hektisch das durchschmorende Kabel suchten – und auch fündig wurden – konnte ich beobachten, mit welcher Ruhe das alles der Regisseur, dessen Film hier so schändlich behandelt wurde, ertrug. Viele asiatische Fans nämlich nutzten die Gelegenheit für eine Autogrammbitte. Willig ließ er sich mit allen möglichen Gruppen fotografieren. Für mich stand derweil fest, dass ich solange den Saal nicht verlassen würde, solange dieser nette Herr hier ausharrte. Und unser Warten wurde belohnt. Nach einer halben Stunde ging es weiter, der Saal hatte sich zwar zur Hälfte gelehrt, die verbliebene Hälfte aber beklatschte am Ende den Film, den Regisseur – und das eigene Durchhaltevermögen.

Ganz im Gegensatz zu seinem würdigen, gelassenen Auftreten zeichnet Cai Shangjuns ein schmutziges, düstereres und nahezu barbarisches Bild der chinesischen Gegenwart. Ein junger Mann in einer abgelegenen Minengegend nimmt einen anderen auf dem Motorrad mit und wird von ihm bei einem Halt im Nirgendwo mit einem Messer mühsam zur Strecke gebracht. Es ist ein sinnlos scheinender Mord. Im weiteren geht es um den Vater des Opfers, der wegen der Ineffizienz der Polizei selbst aufbricht, den Killer zu finden. Was folgt, ist ein Höllentrip durch die dunklen, von offizieller Seite totgeschwiegenen Ecken der chinesischen Gesellschaft: eine korrupte Beamtenschaft, drogensüchtige Großstädter, Mütter, die ihre Kinder weggeben, illegale Minen mit sklavenartigen Zuständen. Trotz Untertitel sind dem fremden Zuschauer manche Wendungen der Handlung unerklärlich geblieben, bis hin zur Frage, was mit dem Killer eigentlich geschieht. Eines aber war klar und deutlich: Gegen Gewalt, so lautet am verstörenden Ende des Films die finstere Bilanz, hilft nur Gewalt.

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Von Heathcliff und anderen Ungeliebten

Das Wetter als Protagonist: Andrea Arnolds "Wuthering Heights"

Zum Aus-Venedig-Berichten gehören gewisse Standards: Der erste zum Beispiel ist, statt „Festival“ mindestens ein Mal „Mostra“ zu schreiben, was eine gewisse Italien-Kenntnis suggeriert, oder etwa vom „Lido“ zu sprechen, um Ortskenntnis zu zeigen. Ein drittes Element der sicher verlängerbaren Liste ist der „Wettereinstieg“: einen Text mit einer meteorologischen Beschreibung zu beginnen. Es gibt dafür keine bessere Gelegenheit, als der Tag, an dem Andrea Arnolds „Wuthering Heights“ Premiere feiert. Neben den Darstellern aus Fleisch und Blut ist der Hauptprotagonist des Films nämlich tatsächlich das Wetter – in vielerlei Schattierungen, von sommerlich-sonnig bis zu leichtem Schneefall, aber fast immer mit viel, viel Wind.

Arnolds Version des Bronte-Romans unterscheidet sich überhaupt von anderen Varianten dadurch, dass sie eine starke Entscheidung getroffen hat, was die Erzählperspektive angeht. Geschildert, besser gesagt nachempfunden wird die stürmische Geschichte aus dem Blickwinkel von Heathcliff, der hier in den verschiedenen Lebensaltern von zwei schwarzen Darstellern verkörpert wird. Ob das zulössig und mit der Vorlage vereinbar sei, bestimmte vor und nach dem Film als Streitfrage die Gespräche, es getraute sich aber auf der Pressekonferenz offenbar niemand danach zu fragen. In der Logik des Films macht es Sinn, Heathcliff ist der junge Wilde, den zuerst der Adoptivvater, dann der Bruder drangsaliert, der nur im Raufen mit Adoptivschwester Cathy ein bisschen Nähe und Zuwendung erfährt, und für diese Liebe und Zuneigung nie den richtigen Ausdruck finden wird. Bei Schnitt und Kamera verfährt Andrea Arnold ganz wie in ihren Vorläuferfilmen „Red Road“ und „Fish Tank“ – die Kamera ist immer nah an den Figuren, folgt ihnen, drängt sich geradezu dazwischen, die Montage ist abrupt und sprunghaft, scheint Szenen manchmal willkürlich abzubrechen, steigt bei der nächsten genauso willkürlich ein. Zusammen mit dem bereits erwähnten Wetter samt all seiner sorgfältig aufgenommenen Geräusche und wenigen ruhigen Schwenks über das raue Gelände erzeugt das ein Gefühl von Unmittelbarkeit, von etwas Drängendem, Ungeschliffenen, das sehr gut zum Roman passt. Leider aber kann sie die Intensität nicht über die ganze Filmdauer halten. Und so sehr es den Romankenner braucht, um die Geschichte, die hier fast ohne Dialoge auskommen muss, überhaupt nachvollziehen zu können, so sehr ist eben der auch frustriert, wenn er am Ende merken muss, dass der Film mit Cathys Tod endet, mithin die zweite Hälfte ganz weggelassen ist.

Apropos zweite Hälfte: die ist im Festivalbetrieb nun definitiv angebrochen. Nachdem es gestern den ganzen Tag mal stärker mal schwächer regnete, scheint nun wieder die Sonne. Obwohl es wieder fast so schwül ist wie in den Tagen zuvor, hat sich die Betriebstemperatur des Festivals merklich abgekühlt. Die Parade der großen Stars ist vorbei, der Run auf die Pressekonferenzen nicht mehr so eilig, die spitzen Schreie („George!“, „Keira!“, „Kate“, „Michael!“), die halbstündig von jenem Balkon, wo die Photo-Calls stattfinden, übers Gelände tönen, sind kaum mehr vernehmbar. Die Zeit der frühen Bilanzen ist da.

Die einzige Tendenz, die sich eindeutig ablesen lässt, ist die, dass Michael Fassbender den Darstellerpreis gewinnen wird. Und zwar entweder für „A Dangerous Method“ oder „Shame“ oder auch gleich beides. Der Rest des Feldes ist unübersichtlich. Für fast alle Filme lassen sich manchmal mehr, manchmal weniger starke Befürworter finden. Es sei mal mit einer Aufzählung der eher ungeliebten Filme begonnen.

Die Wenigsten mochten den chinesisch-taiwanesischen „Warriors of the Rainbow“, der in asiatischer Kampfkunstfilmmanier vom selbstmörderischen Aufstand der taiwanesischen Urbevölkerung gegen die japanische Besatzung erzählte. Aber da das Ganze auf wahrer Geschichte beruhte, hat man eine Menge erfahren, was man vorher nicht wusste. Der einzige Film, während dem bislang höhnisch gelacht wurde – etwas, was in anderen Jahren zum Festivalalltag gehörte – war Philipp Garrels „Un été brulant“. Aber auch für diese sehr stylishe – manche sagen: sehr französische, was nicht als Kompliment gemeint ist – Tragödie über den Beginn des einen und das Ende eines anderen Künstlerpaares, finden sich regelrechte Fans. Monica Belluci, über deren Nacktszene im Vorfeld so spekuliert wurde, die sich dann aber als überaus züchtig erwies, könnte natürlich nach der Regel, dass einer der Darstellerpreise an Italien gehen muss, über all ihre Verächter triumphieren.

Dass bei Emmanuele Crialeses „Terraferma“ nicht gelacht wurde, lag wohl daran, dass die meisten schnell den Saal verließen, oder gar nicht erst gekommen waren. Man traut den italienischen Filmen hier eben einfach nicht über den Weg. Die Italiener selbst haben den Film stürmisch gefeiert. Und damit vor allem den Goodwill, der darin ausgedrückt wird. Crialese widmet sich dem durchaus brennenden Problem der afrikanischen Flüchtlinge, die am Strand und dem Meer vor Lampedusa landen oder man muss besser sagen: angeschwemmt werden. Die Fischer der Gegend sind angewiesen, niemanden ins Boot zu nehmen, geschweige denn bei sich zu verstecken. Die rechtschaffene Familie, die in „Terraferma“ im Zentrum steht, hat damit natürlich so ihre Schwierigkeiten. Der Film hat seine Schwierigkeiten damit, die Rechtschaffenheit als der lokalen Bevölkerung quasi „angeborenen“ Eigenschaft zu behaupten, die er der Konsumorientiertheit anreisender norditalienischer Touristen und der Gewinnsucht einiger weniger korrumpierter Einheimischer gegenüberstellt. Solche Plumpheit tut vor allem dann weh, wenn man bedenkt, welche wunderbar subtilen, schillernden und ungewöhnlichen Filme Crialese mit „Respiro“ und „Nuovomondo“ gemacht hat.

In die Liste der Enttäuschungen muss wahrscheinlich auch Todd Solondz mit seinem „Dark Horse“ aufgenommen werden, der einmal mehr unsympathische Charaktere auf unschöne Weise an sich scheitern lässt. Um zu Provozieren war die dickleibige Hauptfigur, die mit Mitte 30 das Elternhaus noch nicht verlassen hatte und in seiner Freizeit am liebsten das „Toys are us“-Kaufhaus besuchte, zu harmlos. Was man dem Film gar nicht vorwerfen möchte, schließlich hat Tolondz seine Zuschauer auch schon regelrecht gequält. Sehenswert war auf jeden Fall der Auftritt von Mia Farrow und Christopher Walken als altem Ehepaar. Nicht nur dass sie so überzeugend alt waren, sie passten auch ganz hervorragend zueinander.

Zur Liste der „polarisierenden Filme“ und denen, die alle mochten, dann an späterer Stelle.

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Doppelgänger ohne Scham

Michael Fassbender in "Shame"

Dass ein Regisseur mit gleich zwei Filmen auf einem Festival auftaucht, ist eher ungewöhnlich – und doch eben hier in Venedig mit Werner Herzog vor zwei Jahren passiert –, dass Schauspieler in mehr als einem Film zu sehen sind, gehört dagegen zu den gängigen Festivalphänomenen. Kate Winslet zum Beispiel ist gleich drei Mal hier: In Roman Polanskis „Carnage“ spielt sie die Ehefrau von Christoph Waltz – für alle, die das zu Grunde liegende Stück von Yasmina Reza kennen: Sie ist die Frau, die kotzt –, in Todd Haynes‘ Miniserie „Mildred Pierce“, die hier außer Konkurrenz vorgeführt wird, wahrscheinlich weil Haynes in der Jury ist, ist sie in der Titelrolle zu sehen und in Steven Soderberghs „Contagion“ als taffe Ärztin, die von Laurence Fishburne „ins Feld“ geschickt wird, um die ersten Turnhallen in Krankenlager zu verwandeln. Der Eindruck, den Frau Winslet bei all diesen Auftritten hinterlässt, ist wie immer tadellos.

Das muss man bei Michael Fassbender anders formulieren. Fassbender spielt hier einmal bei David Cronenberg den ehrgeizigen und unsicheren Carl Gustav Jung, und zum anderen in Steve McQueens „Shame“ einen modernen, bindungslosen, wahrscheinlich sexsüchtigen Großstadtmenschen. Seit der Premiere von „Shame“ gestern gibt es den ersten heißen Favoriten auf den männlichen Darstellerpreis, die Coppa Volpi – und er heißt Fassbender. Er habe sich in Fassbender verliebt, begann McQueen auf der Pressekonferenz die Frage nach ihrer nach „Hunger“ bereits zweiten Zusammenarbeit. Er könne es nicht anders formulieren, das gäbe es halt zwischen Schauspieler und Regisseur, „I fell in love“. Und Fassbender derweil rief mit noch geschlossen Mikrophon, dass er diese Gefühle teile, „those feelings were mutual“. Es war wirklich rührend.

Der schwarze britische Regisseur mit dem unwahrscheinlichen Namen kommt eigentlich aus der Kunstecke, wie man so sagt und ist hier auf der Mostra gewissermaßen auch doppelt: Er stellt nämlich ebenfalls etwas auf der Kunstbiennale aus. „Shame“ ist nach dem besagten „Hunger“, der vom großen IRA-Hungerstreik Anfang der 80er Jahre handelte, erst sein zweiter „richtiger“ Spielfilm. Fassbender, der in „Hunger“ den legendären IRA-Führer (und sich zu Tode hungernden) Bobby Sands verkörperte,  spielt in „Shame“ eine Art Bret-Easton-Ellis-Figur: in den ersten Szenen sieht man ihn in einem kleinen, aber feinen Manhattan-Appartement und in seinem Büro irgendwo in Manhattan auf heimliche oder weniger heimliche Art (Callgirls, Barbekanntschaften, Internetpornos, Hefte) immer irgendwie mit Sex beschäftigt. Als er in der U-Bahn beim stummen, aber aufgeladenen Flirt mit einer Mitfahrerin gezeigt wird, hielt ihn mein Nebenmann prompt schon für eine Art Killer. Aber das erweist sich dann doch als falsche Spur. Dieser Brandon lebt ein zwar oberflächlich ganz erfolgreiches, aber eben auch absolut bindungsloses Leben, woran sich nicht viel ändert, als seine von Carey Mulligan gespielte Schwester zu Besuch kommt. Mit wenig Dialogen, aber viel Atmosphäre gefilmt, sozusagen rhythmisch geschnitten, mit offenem Ende und keiner Lösung oder Erlösung für seine Hauptfigur ist „Shame“ ein absolut unsentimentaler Film, dessen Melancholie einem gleichzeitig die Kehle abschnürt. Bislang mein Lieblingsfilm.

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