“Film Sorpresa” mit Feuer im Saal

Überraschung in der "Sala Darsena"

Hat es für das weitere Schicksal eines Festivalfilms Auswirkungen, wo und unter welchen Bedingungen er gezeigt wird? Ob im Plüsch des alten Palazzo del Cinema, der frisch restaurierten „Sala Grande“ oder in der profanen „Sala Darsena“, der ehemaligen Freiluftarena dahinter, die irgendwann in den 90ern mit einer Art Holzverschlag überbaut wurde? Und was ist, wenn die Vorführungen nur im ca. für 120 Leute Raum gebenden „Sala Pasinetti“ stattfinden, mit ca 500 wütenden Journalisten vor den Türen, die draußen bleiben müssen? Die große Raumnot des Festivals von Venedig führte gestern auf jeden Fall dazu, dass die erste Vorführung des diesjährigen „Film Sorpresa“, des Überraschungsfilms, den Marco Mueller als Standard in sein jährliches Wettbewerbsprogramm einführte, im kleinen Pasinetti morgens um 9 Uhr stattfinden sollte. Es war die Stunde der Frühaufsteher: Um Viertel nach acht warteten bereits 20 Journalisten, im Grunde guter Stimmung, weil man sicher sein konnte, zu den Happy Few zu gehören, die den Film als erstes sehen würden. Man spekulierte angeregt darüber, um welchen Film es sich handeln könnte. China stand als Herkunftsland so gut wie fest. Obwohl auch Unsicherheit darüber herrschte, ob Mueller seine auf hartnäckiges Fragen gegebene Antwort diesbezüglich, es handle sich „wie immer um einen an der Zensur vorbeigeschmuggelten Film aus China“ nicht vielleicht rein ironisch gemeint haben könnte. Manche wollten sogar wissen, dass es sich um eine Regisseurin handelte, die in Locarno letztes Jahr etwas gewonnen hatte. Oder um die, die ihren Film in Berlin gezeigt hatte? Kurzum, das Warten war einigermaßen kurzweilig, bis nach einer halben Stunde langsam Unruhe aufkam. Man wurde nicht eingelassen, da stimmte doch irgendetwas nicht. „Problemi technici“, verkündete ein überaus unausgeschlafener Saalleiter. Weiter wisse er nichts. Die Stimmung verschlechterte sich spürbar. In der Schlange wechselte das Thema von der Spekulation über chinesische Filmemacher zur obligatorischen Klage über „die Italiener“, deren sonst eher unangenehm auffallende Kommunikationsbereitschaft in solchen Fällen plötzlich gegen Null geht. Vor allem , was Erklärung fürs nichtitalienischisch-sprachige Publikum betrifft. Erst weitere 20 Minuten später stieg aus der Tiefe des Raums ein „Techniker“ hervor, schwitzend, wie es sich gehört, der auf Bitte sogar in Englisch erklärte, dass die Untertiteldatei des chinesischen (Yes!) Films nicht lesbar sei und deshalb die Vorstellung ausfallen müsste.

Aus der Überraschung war bei der nächsten angesetzten Vorführung des Films am Abend längst Gewissheit geworden: es handelte sich um „People Mountain People Sea“ von Cai Shangjun, im Übrigen keine junge Dame, sondern ein eher schon gesetzter Herr. Der Regisseur war mit Entourage selbst anwesend, was für das Gelingen der Vorführung als gutes Zeichen gelten konnte. Nun denn, aber es sollte nicht sein. Nach etwa einer Stunde – die Untertitel funktionierten übrigens ganz fantastisch – standen auf der linken Seite der Sala Darsena plötzlich Leute auf und gingen raus; andere folgten, es wurden immer mehr, und während in meiner Reihe noch darüber spekuliert wurde, ob es sich um eine Art Protest handelte gegen die soeben gezeigte Vergewaltigung etwa, oder den Drogenkonsum, oder die Polizeikorruption oder alles zusammen, das dem chinesischen Image im Ausland eher abträglich ist, begannen wir es zu riechen: ein scharfer Gestank verbrennenden Plastiks breitete sich aus. Doch nirgendwo war Feuer zu sehen. Mittlerweile waren alle Türen nach außen geöffnet worden, das Saallicht ging an, die Projektion wurde angehalten (in dieser Reihenfolge) – und niemand wusste, was los war. Der Exodus hatte sich verlangsamt, manche kamen von draußen wieder rein, andere packten erst jetzt ihre Sachen und gingen. Ein freundlicher Feuermann antwortete allen, die ihn fragten auf italienisch, er wisse auch nicht, was los sei. Über den Lautsprecher lief derweil die automatische Ansage, es würde bald weitergehen.

Während einige wenige Mannen hektisch das durchschmorende Kabel suchten – und auch fündig wurden – konnte ich beobachten, mit welcher Ruhe das alles der Regisseur, dessen Film hier so schändlich behandelt wurde, ertrug. Viele asiatische Fans nämlich nutzten die Gelegenheit für eine Autogrammbitte. Willig ließ er sich mit allen möglichen Gruppen fotografieren. Für mich stand derweil fest, dass ich solange den Saal nicht verlassen würde, solange dieser nette Herr hier ausharrte. Und unser Warten wurde belohnt. Nach einer halben Stunde ging es weiter, der Saal hatte sich zwar zur Hälfte gelehrt, die verbliebene Hälfte aber beklatschte am Ende den Film, den Regisseur – und das eigene Durchhaltevermögen.

Ganz im Gegensatz zu seinem würdigen, gelassenen Auftreten zeichnet Cai Shangjuns ein schmutziges, düstereres und nahezu barbarisches Bild der chinesischen Gegenwart. Ein junger Mann in einer abgelegenen Minengegend nimmt einen anderen auf dem Motorrad mit und wird von ihm bei einem Halt im Nirgendwo mit einem Messer mühsam zur Strecke gebracht. Es ist ein sinnlos scheinender Mord. Im weiteren geht es um den Vater des Opfers, der wegen der Ineffizienz der Polizei selbst aufbricht, den Killer zu finden. Was folgt, ist ein Höllentrip durch die dunklen, von offizieller Seite totgeschwiegenen Ecken der chinesischen Gesellschaft: eine korrupte Beamtenschaft, drogensüchtige Großstädter, Mütter, die ihre Kinder weggeben, illegale Minen mit sklavenartigen Zuständen. Trotz Untertitel sind dem fremden Zuschauer manche Wendungen der Handlung unerklärlich geblieben, bis hin zur Frage, was mit dem Killer eigentlich geschieht. Eines aber war klar und deutlich: Gegen Gewalt, so lautet am verstörenden Ende des Films die finstere Bilanz, hilft nur Gewalt.

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