Doppelgänger ohne Scham

Michael Fassbender in "Shame"

Dass ein Regisseur mit gleich zwei Filmen auf einem Festival auftaucht, ist eher ungewöhnlich – und doch eben hier in Venedig mit Werner Herzog vor zwei Jahren passiert –, dass Schauspieler in mehr als einem Film zu sehen sind, gehört dagegen zu den gängigen Festivalphänomenen. Kate Winslet zum Beispiel ist gleich drei Mal hier: In Roman Polanskis „Carnage“ spielt sie die Ehefrau von Christoph Waltz – für alle, die das zu Grunde liegende Stück von Yasmina Reza kennen: Sie ist die Frau, die kotzt –, in Todd Haynes‘ Miniserie „Mildred Pierce“, die hier außer Konkurrenz vorgeführt wird, wahrscheinlich weil Haynes in der Jury ist, ist sie in der Titelrolle zu sehen und in Steven Soderberghs „Contagion“ als taffe Ärztin, die von Laurence Fishburne „ins Feld“ geschickt wird, um die ersten Turnhallen in Krankenlager zu verwandeln. Der Eindruck, den Frau Winslet bei all diesen Auftritten hinterlässt, ist wie immer tadellos.

Das muss man bei Michael Fassbender anders formulieren. Fassbender spielt hier einmal bei David Cronenberg den ehrgeizigen und unsicheren Carl Gustav Jung, und zum anderen in Steve McQueens „Shame“ einen modernen, bindungslosen, wahrscheinlich sexsüchtigen Großstadtmenschen. Seit der Premiere von „Shame“ gestern gibt es den ersten heißen Favoriten auf den männlichen Darstellerpreis, die Coppa Volpi – und er heißt Fassbender. Er habe sich in Fassbender verliebt, begann McQueen auf der Pressekonferenz die Frage nach ihrer nach „Hunger“ bereits zweiten Zusammenarbeit. Er könne es nicht anders formulieren, das gäbe es halt zwischen Schauspieler und Regisseur, „I fell in love“. Und Fassbender derweil rief mit noch geschlossen Mikrophon, dass er diese Gefühle teile, „those feelings were mutual“. Es war wirklich rührend.

Der schwarze britische Regisseur mit dem unwahrscheinlichen Namen kommt eigentlich aus der Kunstecke, wie man so sagt und ist hier auf der Mostra gewissermaßen auch doppelt: Er stellt nämlich ebenfalls etwas auf der Kunstbiennale aus. „Shame“ ist nach dem besagten „Hunger“, der vom großen IRA-Hungerstreik Anfang der 80er Jahre handelte, erst sein zweiter „richtiger“ Spielfilm. Fassbender, der in „Hunger“ den legendären IRA-Führer (und sich zu Tode hungernden) Bobby Sands verkörperte,  spielt in „Shame“ eine Art Bret-Easton-Ellis-Figur: in den ersten Szenen sieht man ihn in einem kleinen, aber feinen Manhattan-Appartement und in seinem Büro irgendwo in Manhattan auf heimliche oder weniger heimliche Art (Callgirls, Barbekanntschaften, Internetpornos, Hefte) immer irgendwie mit Sex beschäftigt. Als er in der U-Bahn beim stummen, aber aufgeladenen Flirt mit einer Mitfahrerin gezeigt wird, hielt ihn mein Nebenmann prompt schon für eine Art Killer. Aber das erweist sich dann doch als falsche Spur. Dieser Brandon lebt ein zwar oberflächlich ganz erfolgreiches, aber eben auch absolut bindungsloses Leben, woran sich nicht viel ändert, als seine von Carey Mulligan gespielte Schwester zu Besuch kommt. Mit wenig Dialogen, aber viel Atmosphäre gefilmt, sozusagen rhythmisch geschnitten, mit offenem Ende und keiner Lösung oder Erlösung für seine Hauptfigur ist „Shame“ ein absolut unsentimentaler Film, dessen Melancholie einem gleichzeitig die Kehle abschnürt. Bislang mein Lieblingsfilm.

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