Und kein Löwe geht an …

Bevor morgen das große Wetten auf die Vergabe der Löwen beginnt, hier der Versuch, zuerst einmal vorherzusagen, welche Filme aller Wahrscheinlichkeit nichts gewinnen werden: Als erster Kandidat fürs Leerausgehen kommt Vincent Gallos „Promises Written In Water“ in den Sinn, über den sich Kritik und Publikum gleichermaßen einig waren – man war enttäuscht. Was wie so oft auch damit zusammenhängen mag, dass die Erwartungen so groß waren. Bei keinem anderen Film war es so voll wie bei diesem – die große „Sala Darsena“ war bis auf den letzten Platz besetzt. Hinter mir saß ein altes Ehepaar (Senioren können hier für nur 100 Euro eine Dauerkarte kaufen, und zu diesen cinephilen Rentnern gehören die beiden offenbar, als berüchtigte Im-Dunklen-Raschler waren sie mir schon in den Vorjahren aufgefallen), das sich wunderte: Dieser Film müsse offenbar von jemanden sehr Berühmten stammen. Der Name Vincent Gallo sagte ihnen aber nichts. Die Spannung in der Luft war trotzdem förmlich mit den Händen zu greifen. Und entlud sich alsbald in höhnischem Auflachen … Doch der Skandal, auf den alle irgendwie gehofft hatten, blieb aus; statt dass Gallo sich wieder selbst entblößt hätte, gab es nur zwei weibliche nackte Körper zu sehen, und das auch noch in einigermaßen dezenten Einstellungen. Vielleicht wurde gerade das dem Film zum Verhängnis: Dass er eben nicht ganz schlecht war. Nach dem Film hörte ich um mich herum immer wieder Kollegen aus aller Welt erzählen, wie sie damals den Tumult um Gallos „Brown Bunny“ mit seiner berüchtigten Fellatio-Szene in Cannes erlebten. Und interessanter Weise fügten alle mit nur einer Ausnahme hinzu, dass sie den Film eigentlich ganz gut fanden. Es müssen also ganz andere Kritiker gewesen sein, die sich damals aufregten… Im Übrigen halten einige es gar nicht für so unwahrscheinlich, dass Jury-Präsident Tarantino dem Outcast Gallo den Kritikern zum Trotz einen Löwen „besorgt“. Gallo könnte zum Beispiel auch als Darsteller in Jerzy Skolimowskis „Essential Killing“ – der ansonsten auch als Favorit fürs Leerausgehen gehandelt wird – ausgezeichnet werden, wo er einen Taliban auf der Flucht spielt und wo außer einem Schmerzensschrei kein Laut von seinen Lippen kommt …
Aber zurück zu den Verlierer-Tipps: Wie meist gelten zumindest unter den internationalen Kollegen sämtliche vier italienischen Wettbewerbsbeiträge als völlig preisunverdächtig: Sowohl die Komödie „La Passione“, die die Einheimischen allerdings sehr vergnüglich fanden, als auch das 206-minütige Lehrstück übers Risorgimento „Noi credevamo“, das sich leider mehr an Eingeweihte wendete und Menschen, die wenig vertraut sind mit der italienischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, völlig fremd blieb. Unbeliebt machte sich auch die Bestsellerverfilmung „Die Einsamkeit der Primzahlen“, der auf ganz ähnliche Weise in adoleszenter Traurigkeit und dem ewigen Gefühl des Außenstehens badete wie schon die japanische Bestsellerverfilmung „Norwegian Wood“ (ebenfalls chancenlos); der einzig interessante Italiener, Ascanio Celestinis Kinodebüt „La pecora nera“, rettet zwar gerade noch mal so das Ansehen des italienischen Films, konnte aber keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Im Übrigen sieht es bei den Franzosen in diesem Jahr nicht unbedingt besser aus: „Happy Few“, ein Film in dem zwei glücklich verheiratete Paare mit viel Toleranz und Einverständnis den Partnertausch üben, zeichnete sich zwar durch einen einigermaßen realistischen psychologischen Entwurf aus, blieb aber trotzdem sehr satt und glatt im gutbürgerlichen Rahmen. Ähnliches gilt auch für Francois Ozons Komödie „Potiche“, die zwar flott und ironisch inszeniert und vergnüglich anzusehen, aber doch auch schnell vergessen war. Wobei wieder die Darsteller durchaus preiswürdig erscheinen. Sowohl der 61-jährige Gérard Depardieu als auch die 66-jährige Catherine Deneuve geben einmal mehr ein wunderbares Paar ab, und das, obwohl ersterer einen Bauch vor sich herträgt, in den zweitere (ich zitiere meinen geschätzten Kollegen Sascha Rettig) zusammengerollt locker hineinpassen würde. Im Gegenteil, dass in einer furiosen Discotanz-Szene die Arme der Deneuve kaum um Depardieus Leib reichen, verleiht dem Film für einen kurzen Moment jene emotionale Bewegung, die ihm ansonsten fehlt.
Auch Abdellatif Kechiches „Venus noir“ kommt im Übrigen nur für den Darsteller-Preis in Frage, was allerdings eine echte Fehlentscheidung wäre, denn der Film ist so vorhersehbar auf das Mitleid mit der zentralen Hauptperson strukturiert, dass es fast unerträglich war, die 160 Minuten durchzuhalten. Man hatte schon nach den ersten 10 verstanden, dass dieser „Hottentotten-Venus“ im 19. Jahrhundert damit, dass man sie auf Jahrmärkten usw. ausstellte, Grausames widerverfahren war …
Um die Verliererliste abzuschließen: Als einigermaßen sicher gilt, dass auch Julian Schnabels „Miral“, mit dessen gut gemeintem Appell für Frieden in Nahost niemand zufrieden war, leer ausgehen wird. Genauso wie der griechische Beitrag „Attenberg“, der eine eigentlich schöne Vater-Tochter-Geschichte mit so viel betonter Freudlosigkeit und Monotonie zeigt, dass man eigentlich nicht mehr wusste, warum man überhaupt zuschauen sollte. Allerdings hat der Film wegen seiner abweisenden Radikalität natürlich auch seine Fans …
Bleiben als Favoriten für den Löwen also: der russische „Silent Souls“ (mein Lieblingsfilm), der chilenische „Post mortem“ (den ich gar nicht mochte), Sophia Coppolas „Somewhere“ (den fast alle irgendwie mochten), Kelly Reichardts wunderschöner Revisionisten-Western “Meek’s Cutoff” (auch ein Lieblingsfilm vieler), der chinesische Überraschungsfilm „The Ditch“ (der allen Schuldgefühle macht, weil er schreckliche Lagerschicksale im China der 50er Jahre zeigt), die spanische „Balada triste di trompeta“ (von dem man denkt, er könnte in seiner Wildheit Tarantino beeindruckt haben), Takashi Miikes „13 Assassins“  und Tsu Harks „Detective Dee“ (beides sauberes Genrekino, von dem man ebenso glaubt, dass es Tarantino Gefallen könnte). Und „Black Swan“ zumindest für den weiblichen Darsteller-Preis an eine wirklich erstaunliche und großartige Natalie Portman.
Noch sind drei Filme zu gucken, darunter Monte Hellman …

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